Niemals vor verschlossenen Türen stehen
Alle 32 Minuten wird allein in Deutschland ein Kind Opfer sexuellen Missbrauchs. Die Zahl ist schwer zu ertragen, und sie steht nicht allein: Jedes einzelne dieser Kinder, das Schutz gebraucht hätte, leidet unter den Folgen – oft ein Leben lang. Und das sind nur die bekannten Fälle. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, vor allem wenn es um Missbrauch im digitalen Raum geht, wo Täter anonym agieren, sich hinter verschlüsselten Plattformen verstecken und Bildmaterial in Sekundenschnelle verbreiten.
Umso gravierender ist es, dass der Schutz, die Aufarbeitung und der Zugang zu Therapien in Europa – und auch in Deutschland – noch immer davon abhängen, wo ein Kind lebt, welche Hilfsstrukturen vor Ort verfügbar sind und ob die Tat überhaupt angezeigt wird.
Der europäische Flickenteppich bei Prävention und Aufarbeitung ist besorgniserregend: In Schweden etwa wird seit 2023 im Rahmen einer nationalen Strategie gezielt in Prävention und psychosoziale Unterstützung investiert. Finnland verfolgt einen umfassenden Aktionsplan mit verpflichtenden Schulungen für Fachkräfte. In Frankreich fehlen zentrale Anlaufstellen, dafür gibt es verstärkte Ermittlungsbefugnisse der Polizei. In Polen wird das Strafmaß für Täter erhöht, in Kroatien gibt es eine nationale Plattform zur Meldung von Online-Missbrauch – und in Deutschland? Sind spezialisierte Behandlungsstellen oft überlaufen - und regional ungleich verteilt. Gutachten aus Nordrhein-Westfalen sprechen beispielsweise von Versorgungsquoten unter 30 Prozent. Was fehlt, ist ein einheitlicher europäischer Schutzrahmen.
Deshalb war es höchste Zeit, die EU-weite Richtlinie zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und Missbrauch umfassend zu überarbeiten. In der vergangenen Plenarwoche haben wir im Europäischen Parlament in erster Lesung eine Neufassung auf den Weg gebracht, die klare Schutzstandards schafft – unabhängig vom Wohnort des Kindes.
Dabei geht es auch um neue digitale Gefahren: KI-generierte Missbrauchsdarstellungen, Deepfakes und die automatisierte Verbreitung in geschlossenen Netzwerken sind längst bittere Realität. Diese Vorgänge dürfen keine rechtlichen Grauzonen mehr bleiben. Künftig wird nicht nur der Besitz und die Verbreitung solcher Inhalte unter Strafe gestellt, sondern auch die Erstellung von Systemen, die gezielt Missbrauchsdarstellungen erzeugen.
Ein weiterer Fortschritt ist das Ende der Verjährung für diese Taten. Kein Kind soll gezwungen sein, in jungen Jahren über das Erlebte zu sprechen, wenn es dazu noch nicht bereit ist - und später vor verschlossenen Türen stehen. Auch die Mindeststrafen werden angehoben, um der Schwere des Verbrechens gerecht zu werden.
Jetzt müssen Rat und Kommission Verantwortung übernehmen und sich auf einen starken gemeinsamen Rahmen einigen. Die Trilog-Verhandlungen sollten rasch beginnen. Denn es geht um den Schutz der Schwächsten – und dafür zählt nicht jedes Jahr, sondern jede Stunde, jede Minute.